Einst war diese Welt ein wunderschöner Ort. Goldene hohe Türme, die bis zum Himmel reichten, moderne Gebäude, die von einer Zivilisation erzählten, die Grenzen überwunden hatte. Die Erzählungen über diese Zeit waren atemberaubend.
Es war eine Ära voller Glanz, lange vor meiner Geburt. Doch alles, was bleibt, sind Fragmente – flüsternde
Erinnerungen, überliefert in brüchigen Büchern, die Archivaren in der Dunkelheit der Bibliothek lagern. Die
Welt, die sie beschrieben, ist unwirklich für mich, wie ein Märchen, das nie wahr gewesen sein konnte.
Man nennt das Ende dieser Ära den „Tag der schwarzen Sonne“. Niemand weiß mehr, was genau geschah, nur dass der Himmel an jenem Tag aufriss und etwas hereinließ, das nicht von dieser Welt war. Die Menschen, die diesen Moment erlebten, beschrieben ihn als das Ende von allem, was sie kannten – und als den Anfang von etwas Neuem. Etwas Fremdem.
Ich bin Kathrine Mercear, Chronistin dieser veränderten Welt. Es ist meine Aufgabe, das zu bewahren, was bleibt,
bevor auch die letzten Spuren verblassen. Die Berichte über den „Tag der schwarzen Sonne“ sind so
unzuverlässig wie die Welt selbst. Manche behaupten, die Wissenschaftler hätten versucht, die Gesetze der Realität
neu zu schreiben. Sie experimentierten mit Technik und Magie, um Energiequellen zu erschließen, die das Leben für
immer verändern sollten. Doch was sie erschlossen haben, war ein Riss – ein Spalt, der unsere Realität zerbrach.
Die ersten Veränderungen waren subtil. Uhren blieben stehen, Spiegel zeigten Gesichter, die nicht da sein sollten
und Schatten begannen, sich seltsam zu bewegen. Dann kam die Welle: eine schwarze Strömung, die die Stadt
überflutete. Sie verschlang alles – Licht, Farben, Geräusche – und hinterließ eine düstere Stille.
Die Welt danach war nicht dieselbe. Die goldenen Türme, von denen die Geschichten erzählen, sind nur noch gebrochene Silhouetten. Ruinen, die an den Stolz und den Untergang einer Zivilisation erinnern. Nur wenige von ihnen stehen noch und selbst diese sind kaum mehr als Schatten ihrer einstigen Pracht.
Einer dieser Türme ragt noch auf, trotzig und einsam gegen den düsteren Himmel – das Archiv.
Das Archiv ist mehr als nur ein Gebäude. Es ist ein Ort, an dem die Erinnerung bewahrt wird, eine Festung gegen das
Vergessen. Hier werden die Geschichten aufgeschrieben, die das Leben vor dem Tag der schwarzen Sonne beschreiben und Geschichten, die danach geschehen. Damit nichts vergessen wird.
Die Wände des Archivs sind schwarz vor Alter und Dunkelheit, das Licht flackert hier wie ein scheues Tier,
als ob die Schatten auch diesen Ort belagern. Der Turm wirkt lebendig, fast atmend, mit Gängen, die sich wie Adern durch seine Struktur winden.
Hier arbeite ich, in der Bibliothek der verlorenen Geschichten. Die Regale sind endlos, gefüllt mit Büchern,
deren Seiten zu bröckeln scheinen, sobald man sie berührt. Die Luft ist schwer von Staub und der Vergangenheit. Doch trotz seiner Stille ist das Archiv nicht tot. Es ist ein lebendiger Ort, einer, der flüstert. Manchmal höre ich die
Stimmen derer, die vor mir hier waren. Chronisten, die ihre Leben der Aufgabe widmeten, die Fragmente der Wahrheit zusammenzutragen.
Ich schreibe hier, weil ich muss und zugleich, habe das Gefühl etwas Bedeutendes zu tun. Jeder, der ins Archiv
kommt, hat eine Aufgabe. Es ist ein Privileg, ja, aber auch eine Last, die schwerer wiegt, je länger ich bleibe.
Meine Hände gleiten über das Papier, die Feder formt Worte und für einen Augenblick scheint es mir, dass diese
Geschichten über einfache Erinnerungen hinausgehen. Sie sind ein Zeugnis. Ein Beweis dafür, dass wir hier waren.
Denn wer sind wir, wenn wir vergessen?
Die Geschichten, die ich bewahre, sind mehr als bloße Worte. Sie sind Brücken in eine Zeit, die wir kaum
verstehen. Eine Erinnerung daran, dass die Menschen einst nicht nur überlebten, sondern lebten. Sie liebten, schufen,
träumten. Manchmal, wenn die Dämmerung durch die zerbrochenen Fenster des Archivs fällt und die Schatten
länger werden, frage ich mich, ob das genug ist. Ob Erinnerungen ausreichen, um uns zu retten.
Denn das Archiv nimmt mehr, als es gibt. Die Tinte, die ich benutze, ist keine gewöhnliche Tinte. Sie lebt, fließt
nicht nur durch die Feder, sondern scheint tief in meine Haut zu sickern. Es ist, als ob das Archiv selbst ein Teil
von mir werden will.
Fortsetzung folgt…