Die Chronistin – Teil 2

Die Straßen, die einst von Leben erfüllt waren, sind verlassen. Und die Menschen… diejenigen, die blieben, sind
nicht mehr, was sie einmal waren. Es heißt, die Schatten, die durch den Spalt kamen, haben alles verändert. Sie
krochen in die Risse der Realität, breiteten sich aus wie eine Krankheit, unsichtbar und doch unausweichlich.


Heute leben wir in einer Stadt, die nicht mehr ganz hier ist. Eine Stadt, die zwischen den Welten schwebt, die
flüstert, als hätte sie ein eigenes Bewusstsein. Ihre Straßen sind labyrinthisch, und manchmal führen sie nicht
mehr dorthin, wo sie sollten. Die Gebäude scheinen sich zu verschieben, ihre Konturen verschwimmen im Zwielicht.
Es ist eine Stadt, die mehrere Dimensionen verbindet, ein Ort, an dem die Realität brüchig ist. Menschen verschwinden hier.

Einfach so, ohne Vorwarnung, als hätte die Stadt sie verschluckt. Andere verwandeln sich – langsam, Stück für
Stück – in Schatten. Niemand weiß, wann es einen trifft. Es beginnt unmerklich: ein seltsames Flackern im Licht, ein Schatten, der sich ein wenig zu unabhängig bewegt. Manchmal spüren die Betroffenen einen leichten Schauer, eine Kälte, die nicht vergeht. Doch ehe sie begreifen, was geschieht, ist es zu spät.


Die Schatten nehmen sie auf, bis nichts Menschliches mehr übrig bleibt. Sie werden Teil der Stadt, verschmelzen mit
ihr, ihre Stimmen fügen sich dem endlosen Flüstern hinzu. Wir leben mit diesem Wissen, immer am Rande der Angst.
Die Stadt beobachtet uns, ihre Schatten dehnen sich aus, als würden sie uns umarmen wollen. Manchmal frage ich mich, ob sie uns verschonen oder nur mit uns spielen. Doch wir bleiben. Denn die Stadt, so fremd und feindselig
sie auch ist – ist alles, was wir noch haben.


Seit einiger Zeit fühle ich mich verändert. Ich spüre, wie die Schatten mich erreichen, wie sie sich leise und
unaufhaltsam ihren Weg in mich bahnen. Es begann langsam.


Zuerst waren es nur kleine Äderchen unter meiner Haut, kaum sichtbar, wie zarte Linien aus Tinte. Doch mit der Zeit
wurden sie mehr. Sie formten Muster, die sich über meine Arme zogen, fremdartig und doch seltsam vertraut.
Meine Augen haben sich verändert. Sie leuchten jetzt in der Dunkelheit, ein unheimliches Glimmen, das ich anfangs
nicht bemerkte. Doch mehr noch – sie sehen Dinge, die ich früher nicht wahrgenommen habe. In der Nacht ist die Welt klar, als stünde sie im hellen Tageslicht, jedes Detail scharf, jedes Flüstern spürbar.


Und dann ist da diese Fähigkeit, die plötzlich da war, ohne Erklärung. Die alte Göttersprache, wie wir sie nennen –
sie enthüllt sich mir, als wäre sie immer ein Teil von mir gewesen. Ich kann ihre Symbole lesen, ihre Bedeutung
verstehen, als wäre sie meine Muttersprache. Worte, die mir früher als Rätsel vorkamen, sind jetzt klar und deutlich,
ihre Botschaften leuchten in meinem Geist auf, bevor ich sie überhaupt bewusst entziffere.


Ich weiß nicht, wie oder warum das geschieht. Doch ich weiß, dass es kein Zufall ist. Die Stadt verändert uns alle – langsam, unerbittlich. Und ich bin keine Ausnahme. Die anderen Chronisten haben es bemerkt. Ihre Blicke
folgen mir durch die staubigen Gänge der Bibliothek, schwer von unausgesprochenen Fragen. Ich spüre, wie sie mich
beobachten, wie ihre Augen an mir haften, wenn ich an ihnen vorbeigehe.


Doch niemand sagt etwas.


In dieser Stadt haben wir gelernt, dass Schweigen oft der sicherste Weg ist. Worte können Gewicht haben, mehr, als wir tragen können. Ein falsches Wort, eine Frage zu viel, könnte etwas heraufbeschwören, das besser verborgen bleibt. Ihre Blicke sind genug. Sie verraten, dass sie wissen, dass sich etwas verändert hat. In mir. An mir. Vielleicht
sehen sie die Muster auf meiner Haut, wenn ich vergesse, meine Ärmel hinunterzuziehen. Vielleicht ist es meine Art,
mich zu bewegen, oder die Art, wie meine Augen in der Dunkelheit leuchten.


Doch sie fragen nicht. Sie weichen meinen Blicken aus, als fürchteten sie, die Antwort zu hören. Und ich schweige
ebenfalls. Manchmal frage ich mich, ob sie mich fürchten. Oder ob sie einfach darauf warten, dass die Stadt auch sie ruft. Ich beende meinen Satz und lege die Feder beiseite. Es ist schon spät, meine Augen tränen, und die Worte auf der Seite verschwimmen vor meinem Blick. Meine Finger streichen über das Papier, wo die Tinte noch glänzt, nicht ganz getrocknet. Die Linien scheinen für einen Moment zu leben, sich unter meiner Berührung zu bewegen.

Dann spürte ich es. Eine Kälte kroch durch den Raum, dicht und schwer, als ob die Luft selbst mit Dunkelheit durchdrungen wäre. Sie legte sich über mich wie ein unsichtbarer Schleier, drang durch die Stille, bis Gänsehaut meinen Nacken hinaufstieg. Es fühlte sich an, als ob etwas mich berühren wollte – zögernd, doch unausweichlich. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, meine Muskeln spannten sich, als könnte ich mich
vorbereiten.

Die Kerze, die neben mir stand, flackerte plötzlich, obwohl kein Windzug zu spüren war. Ihr Licht kämpfte gegen
die Dunkelheit, die sich in den Ecken des Raumes sammelte und langsam näher kroch. Die Feder glitt aus meinen Fingern und fiel klirrend auf den Tisch.


Ich hob den Blick. Und sah ihn.
Er wuchs aus den Schatten, langsam und mit einer Präsenz, die den Raum ausfüllte. Seine Form war unklar, beinahe
schemenhaft, als würde die Dunkelheit selbst versuchen, sich zu einem Körper zu fügen. Doch sein Gesicht – es war
makellos, eine unheimliche Perfektion, die mehr weh tat, als sie bewunderte. Seine Augen waren tiefblau, unergründlich, als könnten sie Geheimnisse bewahren, die älter waren als die Stadt, älter als der Riss, älter vielleicht sogar als die Zeit selbst. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht sprechen, nur starren, während er vollständig Gestalt annahm.


Nach einigen Minuten stand er da – eine Menschengestalt, so klar und deutlich wie ich selbst. Doch alles an ihm
schrie, dass er kein Mensch war.
„Kathrine.“ Sein Ton war ruhig. Eine tiefe, resonante Stimme, die mich dazu brachte, tief Luft zu holen, als
müsste ich mich wappnen. Er stand ruhig da, seine Gestalt halb im Schatten verborgen, doch seine Augen – diese
unnatürlich tiefblauen Augen – hielten mich gefangen.
„Ich bin hier, weil du etwas erfüllen musst“, sagte er und trat einen Schritt auf mich zu.

Ich blinzelte, unfähig zu begreifen, was er von mir wollte. Seine Präsenz war überwältigend und doch konnte ich
nur an eines denken: Er war ein Wesen aus einer Welt, die Meine zerstört hat.
„Erfüllen?“ Meine Stimme klang schärfer, als ich beabsichtigt hatte. „Was bist du überhaupt, dass du herkommst, dich beamst, oder was auch immer und dann auch noch etwas forderst?“


Sein Gesicht blieb regungslos, doch in seinen Augen schien ein Funken von etwas zu liegen – vielleicht Geduld,
vielleicht etwas anderes.
„Ich bin aus der Dimension, die mit deiner verbunden ist“, sagte er. „Und ich bin hier, weil es notwendig ist.“
„Notwendig?“ Ich lachte bitter, ein Geräusch, das hohl in der Dunkelheit klang. „Notwendig war es, meine Welt zu
zerstören? Uns alles zu nehmen? Glaubst du ernsthaft, ich werde dir helfen?“


Er blieb ruhig, ließ meine Worte über sich ergehen, als hätte er sie erwartet.
„Eure Welt war bereits zerbrochen“, sagte er schlicht. „Der Riss hat das nur sichtbar gemacht.“
Sein Ton war sachlich, aber in mir brodelte es.

„Das ist also deine Erklärung? Du willst mir erzählen, dass wir selbst daran schuld sind?“
„Ich bin nicht hier, um Schuld zuzuweisen.“ Seine Stimme wurde weicher, doch die Schwere darin blieb. „Ich bin hier,
um zu verhindern, dass die Transformation für euch zu einem Albtraum wird.“

„Transformation?“ Ich schüttelte den Kopf, die Wut kochte in mir hoch. „Deine Schatten fressen alles auf, sie nehmen
uns alles. Und du nennst das, Transformation?“ Seine tiefblauen Augen hielten meinen Blick fest, unerschütterlich.

„Die Verschmelzung der Dimensionen ist unausweichlich. Eure Welt wird Teil unserer und eure Menschen werden sich verändern. Doch diejenigen, die sich
wehren, werden leiden.“
Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog.
„Leiden? Was bedeutet das?“
„Die Transformation verändert euch auf eine fundamentale Weise“, sagte er. „Doch wenn eure Seele nicht vorbereitet
ist, wird sie in einem Zustand des Widerstands gefangen bleiben. Diese Menschen erleben ihre tiefsten Ängste immer
wieder. Sie werden in einer Art Albtraum existieren, unfähig, die neue Welt zu begreifen. Sie sind unsterblich,
Kathrine – aber in einem Zustand endlosen Chaos.“
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag, doch ich ließ mir nichts anmerken.
„Und was genau erwartest du von mir?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort fürchtete.
„Du musst sie vorbereiten“, sagte er. „Sie müssen verstehen, was kommt. Nur du kannst sie darauf vorbereiten,
damit sie nicht in der Dunkelheit verloren gehen.“


Ich verschränkte die Arme, meine Hände zitterten leicht.
„Warum sollte ich das tun? Warum sollte ich dir helfen?“
Zum ersten Mal zeigte sich etwas in seinem Gesicht – ein Hauch von Bedauern, vielleicht auch Resignation.
„Weil du bereits ein Teil von beiden Welten bist“, sagte er. „Du verstehst, was die Menschen fühlen, doch du siehst auch, was kommen wird. Das macht dich einzigartig. Ohne dich werden viele leiden.“


Ich schloss die Augen, versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Alles in mir schrie dagegen, alles in mir wollte ihn
fortschicken. Doch seine Worte blieben haften, wie ein Flüstern, das ich nicht ignorieren konnte.
Ich spürte die Verantwortung wie eine Last auf meinen Schultern. Doch ich konnte nicht Nein sagen. Nicht, wenn es
darum ging, Menschen vor diesem Albtraum zu bewahren.
„In Ordnung“, sagte ich schließlich. „Ich werde es versuchen. Aber nicht für dich – für sie.“
Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. „Das genügt.“

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